«Kind sein» –
gestern, heute und morgen

Vor 150 Jahren begann eine St.Galler Erfolgsgeschichte, die bis heute Bestand hat. Das damals im Osten der Stadt gegründete Mädchen- und Bubenheim besteht noch heute. Früher wurde es «Bewahranstalt» genannt, nun ist es schon seit Langem als GHG Tempelacker bekannt. Im Laufe der Zeit hat sich einiges verändert. Doch das Wichtigste ist nach wie vor, dass Kinder bei uns einen Ort finden, an dem sie sich entfalten können. Zum 150-Jubiläum schauen wir auf die bewegte Geschichte unserer Institution zurück.
«Am Eröffnungstage beherbergte das kleine Haus, das heisst ein Stockwerk desselben, nur zwei Pfleglinge und zwei Erwachsene, die Hausmutter und ihre Gehilfin. Die Zahl der Pflegekinder erhöhte sich indessen in kurzer Zeit auf acht Kinder, was die Anstellung eines Dienstmädchens nötig machte.» So wurde vor 150 Jahren über das neue Kinderheim an der Steingrüeblistrasse in St.Gallen berichtet, aus dem später die GHG Tempelacker hervorgegangen sollte. Geleitet wurde diese sogenannte «Bewahranstalt» der damaligen «Hülfsgesellschaft» anno 1874 von einer Thurgauerin. Es ist überliefert, dass «gute Kuhmilch» damals das Hauptnahrungsmittel für die Kinder war. Bereits ab dem zweiten Betriebsjahr wurde Verstärkung in der Betreuung benötigt und es kamen Diakonissinnen als fachkundige Pflegerinnen zum Einsatz.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nun am bis heute beibehaltenen Standort Tempelacker, war in unserem Heim das Familiensystem gebräuchlich, das als fortschrittlich galt. Überliefert ist die folgende Beschreibung, verfasst von einem Arzt, der im Tempelacker im Einsatz war: «Jede Schwester hat 4 bis 5 Kinder in Pflege, und es stehen einer solchen Familie je ein eigener Tagesraum und ein eigenes Schlafzimmer zur Verfügung. Garten und Veranden werden gemeinschaftlich benützt.»
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen besonders viele Herausforderungen auf unser Kinderheim und die damit verbundenen Menschen zu. Dazu zählen Keuchhusten- und Masernepidemien und auch die Spanische Grippe gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Erwähnenswert ist auch, dass sich die Institution Tempelacker schon früh im Bereich Ausbildung stark machte – beispielsweise, indem sie ab 1917 die Schulung von Lehrtöchtern anbot und förderte. Daraus hat sich später die Schwesternschule entwickelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird über weitere Schwierigkeiten berichtet. Gemäss Überlieferungen kam es beispielsweise im Jahr 1946 trotz Vollbelegung des Heims zu einem Defizit: «Das Heim war das ganze Jahr so gut besetzt, dass zahlreiche Aufnahmegesuche abgewiesen werden mussten. Man sollte also meinen, es sei Geld in Hülle und Fülle eingegangen! Es ist ein Irrtum: ‹Unsere Kundschaft setzt sich fast ausschliesslich aus unbemittelten Leuten zusammen. Es sind Mütter, die unehelich geboren haben und zum Teil keine oder geringe Alimente erhalten. Es sind Mütter, deren Familien ihren Verdienst nötig haben. Es sind ledige Frauen, die der Geburt entgegensehen und während der Zeit des Stillens irgendwo aufgehoben und gepflegt sein müssen. Es sind schwächliche und kränkelnde Kinder aus Proletarierkreisen.›»
Im September 1947 erschien in den lokalen Tageszeitungen ein Notruf, in dem stand, dass das Weiterbestehen des Kinderheims Tempelacker bedroht sei. Der Leserschaft wurden in diesem Bericht die weitgesteckten philanthropischen Ziele, die finanzielle Misere und die grosse Renovationsbedürftigkeit des Heims lebhaft vor Augen geführt. Zudem wurden Bittschreiben an 120 Firmen aus der Region verschickt. Ausserdem war das ehrenamtliche Damenkomittee mit einem Stand an der Olma präsent. All diese Einsätze lohnten sich, denn dadurch konnten die dringend benötigten Geldmittel aufgetrieben werden. In den 1950er-Jahren konnte damit langersehnte Umbauarbeiten realisiert werden.
1951 war für den Tempelacker das Ende einer Ära, denn der langjährige leitende Arzt Dr. Hoffmann trat nach 36-jährigem Einsatz zurück. Ihm ist unter anderem die revolutionierend moderne Ernährung der Säuglinge zu verdanken, und er hat sich stets dafür eingesetzt, dass die Kinder in unserer Institution viel frische Luft und Bewegung erhalten. Zudem erkannte Dr. Hoffmann den Nutzen von Antibiotika und setzte diese gezielt ein, woraufhin die Kindersterblichkeit zurückging – von 20 auf 2 Prozent! Mit viel Erfolg hat sich der Arzt zudem dafür eingesetzt, Säuglings- und Kinderpflegerinnen auszubilden. Dr. Hoffmanns Nachfolger Dr. Frischknecht wiederum war es, der 1968 die Cerebralstation des Tempelackers gründete. Schnell zeigte sich, dass diesbezüglich ein Bedürfnis bestand, denn die Zahl der dort betreuten Kinder stieg stetig an.
Etwas später kam es in der Kommission des Tempelackers ebenfalls zu Rücktritten nach langjährigen Engagements. Nach über 40 Jahren legte Anny Knupp-Hoepli 1963 ihr Amt nieder. Auch ihr Mann trat zu dieser Zeit aus Altersgründen von seinem Amt als Präsident zurück.
Die Zweckbestimmung des Kinderheims Tempelacker wurde im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte laufend überarbeitet und angepasst, da sich die Gegebenheiten und auch die gesellschaftlichen Bedürfnisse laufend wandelten. Ein Meilenstein ist das Jahr 1965. Unterdessen war es nicht mehr üblich, dass Kinder aufgrund materieller Schwierigkeiten im Elternhaus ans Heim verwiesen wurden. Auch medizinische Gründe traten bei der Aufnahme in den Hintergrund, da hierfür das Kinderspital zuständig war und eine klare Aufgabenteilung galt. In den frühen 70er-Jahren definierte der Tempelacker seinen Schwerpunkt schliesslich wie folgt: «Der Tempelacker will in erster Linie sozial, körperlich und psychomotorisch geschädigte Säuglinge und Kleinkinder aufnehmen und in seiner allgemeinen Krankenabteilung oder auf der Cerebralstation pflegen und fördern.»
Die Ausbildung war weiterhin ein wichtiges Standbein. 1972 konnte man das 50-jährige Bestehen der Kinderkrankenschwesternschule Tempelacker feiern. Ein noch grösseres Jubiläumsjahr war allerdings 1974, denn damals bestand der Tempelacker seit genau einem Jahrhundert. Das Jubiläumsfest mit 120 geladenen Gästen ging als erfolgreicher und schöner Anlass in die Geschichte ein.
Die 80er- und 90er-Jahre wiederum brachten im Tempelacker einige bemerkenswerte organisatorische Änderungen mit sich. Beispielsweise wurde eine Kindertagesstätte eingerichtet, und ab 1990 kam in der Finanzbuchhaltung ein Computer zum Einsatz. Die Schule wurde nach über sieben Jahrzehnten ausgegliedert und vom Kinderspital übernommen. Der Tempelacker wiederum entwickelte sich zum begehrten Lehrbetrieb, in dem im Sommer 1997 die ersten Erzieherinnen ihre Ausbildung abschliessen konnten. Während die Nachfrage bei der Cerebralstation zurückging, gewannen die Physio- und die Ergotherapie immer mehr an Bedeutung.
Das 20. Jahrhundert endete im Tempelacker mit einer weiteren grossen Feier, denn anno 1999 stand das 125-Jahre-Jubiläum auf dem Programm. Dieses Mal waren rund 200 Gäste dabei.
Spenden machten es möglich, dass das Tempelacker-Team seit der Jahrtausendwende vermehrt besondere Aktivitäten wie Ausflüge oder Ferienwochen mit den Kindern durchführen konnte. Zudem gewannen die Integration und die Inklusion an Bedeutung. Zu Beginn der Nullerjahre wurden Kinder aus insgesamt elf Nationen betreut – eine kulturelle und sprachliche Vielfalt, die es zuvor im Tempelacker noch nie gegeben hatte!
2014 fand das bisher letzte grössere Tempelacker-Fest anlässlich des 140-jährigen Bestehens statt. Das Jubiläumsprogramm umfasste einen Tag der offenen Tür und eine Veranstaltung zum Thema Zirkus.
Ende 2018 kam es einmal mehr zu einem organisatorischen Umbruch. Mit der von der Hauptversammlung beschlossenen Neuorganisation der GHG löste man die Betriebskommissionen der Institutionen auf. Seither ist eine fünfköpfige Geschäftsleitung für die operative Führung des Vereins GHG verantwortlich. Der Tempelacker wurde innerhalb des Vereins im Bereich Kinder angesiedelt. Dessen damaliger Leiter Walter Meile war gleichzeitig auch als Institutionsleiter tätig.
Im Jahr 2023 fand ein Führungswechsel statt. Ramon Beerli übernahm die Stelle als Bereichsleiter Kinder der gesamten GHG, Désirée Schmuki wurde Institutionsleiterin der GHG Tempelacker.
Per 1. Januar 2024 hat die GHG zusätzlich das Wohnheim für Kinder und Jugendliche im Riederenholz übernommen. Dadurch hat die GHG Tempelacker eine Schwesterninstitution erhalten. Gemeinsam mit dieser können künftig viele weitere Synergien genutzt werden.
Impressionen aus unserem Archiv










Feiern Sie mit!
Am Samstag, 8. Juni 2024, feiern wir unter dem Motto «Kind sein» das 150-jährige Bestehen der GHG Tempelacker. Der Jubiläumsanlass auf unserem Gelände in St.Gallen ist öffentlich und dauert von 10 bis 15 Uhr. Eine Anmeldung ist nicht nötig.
Mehr zum Jubiläumsfest erfahren